Live hören
Doku über internierte Künstler im Zweiten Weltkrieg
Buchcover: "Eine Arbeiterin. Leben, Alter, und Sterben" von Didier Eribon

"Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben" von Didier Eribon

Stand: 18.03.2024, 12:00 Uhr

14 Jahre nach "Rückkehr nach Reims" erzählt der französische Soziologe Didier Eribon erneut eine große Gesellschaftsfrage entlang der eigenen Geschichte. In "Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben" geht es um seine Mutter, die nach einem harten Leben als Fabrikarbeiterin in einem Altenheim untergebracht wird. Eine Rezension von Judith Heitkamp.

Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben
Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp, 2024.
272 Seiten, 25 Euro.

"Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben" von Didier Eribon

Lesestoff – neue Bücher 18.03.2024 04:54 Min. Verfügbar bis 18.03.2025 WDR Online Von Judith Heitkamp


Download

O-Ton Eribon:
"Ma mère me laissait des messages sur le répondeur la nuit, on me maltraite ici, je suis maltraitée ici, je ne sais pas ce j’aurais fait, pourquoi, on m’interdit de prendre des douches."

Am Anfang des Buchs standen Anrufe seiner Mutter aus dem Altenheim, erzählte Eribon im französischen Fernsehen. Nachrichten auf dem Anrufbeantworter: ich werde misshandelt, was habe ich getan, die verbieten mir, zu duschen. 

"[...] du wirst sehen, alles wird gut. [...] Ein Auszug aus einem Brevier für Söhne und Töchter, die gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, während das Leben ihrer Mutter oder ihres Vaters in den Grundfesten erschüttert wird."

Denn die Wahrheit ist: Pflegeheim, das ist die letzte Station. Alleine kommt sie nicht mehr zurecht, dennoch wehrt die Mutter sich mit aller Macht gegen die neuen Lebensumstände, die eben nicht gut werden, die ganz objektiv mit weniger Selbstbestimmung, weniger Freiheit und noch weniger Hoffnung auf Verbesserung verbunden sind. Und die geprägt sind von Unterfinanzierung und Profit-Logik. 

"Man erklärte mir, damit meine Mutter aufstehen könne, müssten zwei männliche Pflegehelfer sie aus dem Bett heben. Das gehe nur einmal pro Woche."

O-Ton Eribon:
"Là j’étais exaspéré [...] comment c’est possible qu’on traite les personnes agées comme ca [...]."

Eribon ist außer sich, telefoniert, recherchiert, schreibt gleichzeitig sehr nüchtern die Szenen auf, die er in diesem so privaten Zusammenhang erlebt hat. Er liest sich ein in die Berichte über französische Altersheime, die in der Tat von skandalösen Zuständen sprechen. Doch gegen das System kommt er nicht an. Und es geht ihm auch nicht um Enthüllungsjournalismus – er versucht, über seine eigene Geschichte die gesellschaftliche Funktion "Umgang mit Alter und Bedürftigkeit" zu verstehen – und zum politischen Thema zu machen.

So wie er das in "Rückkehr nach Reims" auch getan hat – sein Weg von der rechtsextremen Unterschicht zum politisch engagierten, linken, offen homosexuellen Soziologieprofessor als politisches Analyse-Instrument. Aus diesem Buch kennen wir seine Familie schon und wissen auch, wie schwer der Bruch war und wie groß der Hass.

"War die soziale Gewalt und Deklassierung, die Erniedrigung, die meine Mutter ihr Leben lang erfahren hatte, im Zuge eines mysteriösen soziopsychologischen Umwandlungsprozesses zu einer unaufhörlichen verbalen Gewalt gegen jene Menschen geworden, auf die herabzublicken sie sich im Recht fühlte?"

Tod, Trauer, Gewalt, seine Familiengeschichte, die Familie als gesellschaftliche Bezugsgröße, Fragen von Generation, Klasse, Arbeit, Ritual, viele literarische Spiegelungen – all das prägt das zwischen Abstraktion und Konkretion wandernde Nachdenken in "Eine Arbeiterin". Und als Leserin wandert man gerne mit, Eribons Stil ist klar und unprätentiös und Sonja Fincks Übersetzung erneut klug und treffend.

Vor allem aber kommt dem Autor immer wieder die Wut. Bedürftige Menschen, die vereinzelt und hilflos einer mal staatlichen, mal privatwirtschaftlichen Altersverwaltung und den ihr zugestanden Ressourcen ausgeliefert sind – sie haben keine Lobby und keine Chance, je eine zu bekommen. Nicht mal die Philosophie, so Eribons Fazit im letzten Kapitel, rechne mit einem Subjekt, das keine Zukunft mehr gestalten kann:

O-Ton Eribon:
"Au fond sa plainte était très politique. (Puisqu’elle disait: on me maltraite. Tout un système l’a maltraitée.) Mais cette plainte n’avait qu’un destinataire qui était moi. Et je me suis dit: Je serais le porte-parole des milliers des femmes qui téléphonet à leurs enfants pour dire on me maltraite ici." (Die Klage meiner Mutter war sehr politisch, sagt Didier Eribon hier  – aber ich war ihr einziger Adressat. Und so sei er mit diesem Buch zum Sprecher all der tausenden Mütter geworden, die nachts ihre Kinder anrufen, um zu sagen, dass sie misshandelt werden.)

Didier Eribons Mutter starb in der Woche nach dem Umzug ins Heim. Aus seiner Sicht war es ihre Entscheidung.