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Buchcover: "Zitronen" von Valerie Fritsch

"Zitronen" von Valerie Fritsch

Stand: 08.05.2024, 07:00 Uhr

Wer wird man, wenn die Kindheit von körperlicher und seelischer Gewalt geprägt ist? Keiner geringeren Frage widmet sich Valerie Fritsch in ihrem neuen Roman "Zitronen". Eine Rezension von Michelle Clermont.

Valerie Fritsch: Zitronen
Suhrkamp, 2024.
186 Seiten, 24 Euro.

"Zitronen" von Valerie Fritsch

Lesestoff – neue Bücher 08.05.2024 05:55 Min. Verfügbar bis 08.05.2025 WDR Online Von Michelle Antonie Clermont


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"Das Dorf war so klein, dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden, nicht einmal den unter seinem eigenen Dach. Den Kindern erzählten die Alten, auf der Straße müsse man alle Männer grüßen, weil man nie wissen könne, wer der Vater sei. Überall gab es Geschichten, hinter denen man rasch die Tür zuzog."

Unheilschwanger und beklemmend: Die Szenerie, die Fritsch schon zu Beginn des Romans eröffnet, liest sich wie eine Prophezeiung. August Drach, der am Rande des Dorfes in einem schiefen Haus aufwächst, ist die Hauptfigur von "Zitronen". Und auch bei seiner Geschichte ist man stellenweise geneigt, die Tür oder vielmehr den Buchdeckel zu schließen, so tief sind die menschlichen Abgründe, die sich einem offenbaren.

"Zitronen" von Valerie Fritsch

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Mit großer Nüchternheit, aber märchenhaft andächtigem Tonfall beschreibt der Erzähler im ersten Teil des Romans Augusts Kindheit. Körperliche und seelische Gewalt sind darin an der Tagesordnung. Augusts Vater, ein nach außen hin charmanter, aber gekränkter Tyrann ist allein in seiner Unberechenbarkeit berechenbar. Seine einzige Liebe gilt den Hunden, vor denen er nachts Predigten hält und dabei betrunken mit Äpfeln jongliert.

Für seinen Sohn, mit dem er den Vornamen teilt, hat er nur Schläge und Demütigungen übrig. Derweil lebt Lilly Drach, Augusts Mutter, in ihrer ganz eigenen Welt und ist vor allem eins: mit sich selbst beschäftigt. Geht es jedoch darum, ihren Sohn nach den Misshandlungen zu trösten und zu verarzten, blüht sie regelrecht auf.

"Sie fuhr sich durchs Haar, benutzte Wörter, die sie sonst mied, sprach bestimmt, als wäre sie eine andere, gab sich der eigenen Metamorphose hin, mit dem satten Blick jener, die plötzlich die Gitterstäbe der eigenen Existenz vertilgt hatten und frei waren. Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen das einen erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah."

Als der Vater, der alte August, eines Tages sang und klanglos verschwindet, ändert sich zwar die Familiendynamik, sie wird deswegen aber nicht weniger destruktiv. Um weiterhin die Rolle einer sich aufopfernden und kümmernden Mutter zu erfüllen, vergiftet Lilly Drach systematisch ihren Sohn, schmückt ihn sogar mit einer umfänglichen Krankheitsgeschichte aus.

Statt mit den anderen Kindern zu spielen oder die Schule zu besuchen, verbringt August ein Großteil seiner Jugend ans Bett gefesselt, seiner wahnhaften Mutter ausgeliefert. Ironischerweise ist es ein Blitz – eigentlich lebensgefährlich –, der August kurz nach seinem siebzehnten Lebensjahr ins Krankenhaus rettet und somit aus den Fängen von Lilly Drach befreit.

Im zweiten Teil des Romans lebt der nun erwachsene August in einer winzigen Wohnung in der Stadt. Sein größer Wunsch: endlich leben, nachholen, was er in all den Jahren verpasst hat. Dass das in einer Welt, in der immer andere für einen die Fäden in der Hand gehalten haben, nicht so leicht ist, merkt er spätestens als er die Künstlerin Ava kennenlernt. Und zum zweiten Mal vom Blitz getroffen wird – diesmal nur metaphorisch. 

"Es war eine erste Liebe, die erste nach jener der Mutter, unbeholfen, absolut. Eine, die Rettung versprach. Eine, die zu groß schien für die Wirklichkeit. Eine, die stets von ihrem Ende bedroht war. Eine, die die Schönheit und den Schrecken in sich trug, dass der, der seine Beschädigungen an der Zuneigung eines anderen Menschen heilte, zwar für die Momente der Verbindung endlich ganz wurde, aber umso vollständiger wieder auseinanderbrach, wenn sie vorüber waren. Wer sagte: Du bist mein Leben, meinte auch: Du bist mein Tod."

Valerie Fritschs Roman ist eine in die Literatur übersetzte Fallgeschichte. Analytisch und mit großer Beobachtungsgabe taucht die Autorin tief in die menschliche Psyche ein. Dabei nimmt sie nicht nur den Protagonisten, sondern all ihre Figuren genaustens unter die Lupe. Nicht nur kennt die Autorin sie in und auswendig: Wenn sie wollte, könnte sie die Verhaltensmuster ihrer Figuren tiefenpsychologisch begründen – und das merkt man auch.

Manches wird auserzählt, was vielleicht nur angedeutet werden muss. Trotzdem schadet das insgesamt nicht der Erzählung. Weil Fritsch das Ausgeliefertsein – auch in Bezug auf sich selbst – zwar in umständlicher Sprache, aber bildgewaltig und packend illustriert. Weil sie die verschiedenen Facetten von Gewalt und wie diese Teil von Persönlichkeit und Identität werden, so minutiös aufschlüsselt, dass man einfach weiterlesen muss. Und so wünscht die unbelehrbare Leserschaft August Drach, dem nicht einmal ein eigener Name vergönnt ist, bis zur letzten Seite vor allem eins: zu entkommen.