Live hören
Jetzt läuft: Charles Villiers Stanford - Konzert Nr. 2 c-Moll, op. 126
Der Dirigent, Cembalist, Organist Jörg Halubek schaut lächelnd in die Kamera

Tage Alter Musik Herne 2023

Mode und Stil

Mode ist nach Immanuel Kant eine Sache der Eitelkeit und des Wetteifers, einander zu übertreffen. Aber erst, wenn Geist und Geschmack dazu kommen, wird aus der "veränderlichen Lebensweise" der Mode etwas Beständiges, ein Produkt, das der Philosoph als Poesie (als ein Werk der schönen Kunst) bezeichnet. An solchen Übergängen vom eine Zeit lang Beliebten hin zu Stilen, die die künstlerische Eigenart ganzer Nationen prägen können, sind wir in diesem Jahr bei den TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE interessiert.

Die Mitglieder des Ensembles Anonima Frottolisti gehen mit Blick in die Kamera eine Straße entlang

Manchmal waren es einzelne Personen mit ihren Vorlieben, die solche kulturellen Bewegungen in Gang setzten, etwa Isabella d’Este in Mantua im frühen 16. Jahrhundert. Heute würde man sie als "Influencerin" bezeichnen. Die bedeutende Mäzenin, die selbst Sängerin war und verschiedene Instrumente spielte, dokumentierte ihren Geschmack in rund 12.000 Briefen und konnte so Trends auch in der Musik und den bildenden Künsten setzen (Anonima Frottolisti am 9.11.).

À la française

Das Ensemble Masques steht mit Streichinstrumenten zwischen zwei Marmorsäulen

Der Komponist Francesco Cavalli, dessen Opern in Venedig groß in Mode standen, schrieb mit "L’Ercole amante" eine Hochzeitsoper für den französischen König Ludwig XIV., die allerdings erst zwei Jahre später aufgeführt wurde und durchfiel, weil Italienisches in Paris inzwischen nicht mehr goutiert wurde. Mehr und mehr entwickelte sich in Frankreich nämlich eine Art staatlich protegierter Kunstgeschmack, der mehr als eine Modeerscheinung war und grenzüberschreitend stilprägend wurde. Jeder Fürst in Europa, der etwas auf sich hielt, wollte sich bald sein eigenes Versailles schaffen. Um in der Musik "französisch" zu wirken, reichte es aber schon, die kunstvollen französischen Tanzsätze und die dazu passende Verzierungskunst zu adaptieren (Ensemble Masques am 10.11.).

Amore mit Amour

Das Ensemble "Il Gusto Barocco"

Französische Stildominanz hielt die Komponistin Antonia Bembo, die in der Gunst von Ludwig XIV. stand und einst Schülerin von Cavalli gewesen war, nicht davon ab, fast ein halbes Jahrhundert später dasselbe Libretto über den "verliebten Herkules" für Paris noch einmal zu vertonen, jetzt mit einer geschickten Vermischung französischer und italienischer Stilelemente (Il Gusto Barocco am 11.11.).

Freiburger Barockconsort

Was und wie getanzt wird, unterliegt den Moden, heute wie im Barockzeitalter. Manchmal gibt es aber eine Art Revival. Da zeigen alte Tänze über ostinate Bässe wie die Folia sich plötzlich einem Techno-Rave verwandt oder der Salsa dem Contredanse französischenglischer Provenienz (Freiburger BarockConsort und ensemble recherche am 12.11.).

Parodien und populäre Gesänge des 16. bis 19. Jahrhunderts. 

Das Huelgas Ensemble singt unter der Leitung von Paul van Nevel

Die Chanson "L’homme armé", die von einem furchterregenden waffenstarrenden Mann berichtet, in dem man im 15. Jahrhundert Karl den Kühnen von Burgund zu erkennen glaubte, war das Grundelement – der Cantus firmus – vieler sogenannter Parodiemessen. Die früheste stammt von Guillaume Dufay, der dem Herzog eng verbunden war. Aber noch bis in unsere Zeit war diese charakteristische Melodie Gegenstand kompositorischer Beschäftigung, weniger aufgrund politisch-geschichtlicher Assoziationen als wegen ihrer Tauglichkeit für musikalische Bearbeitungen, ebenso wie die beliebte Sechstonfolge "Ut – re – mi – fa – sol – la" (Huelgas Ensemble am 11.11.).

Ensemble Leones

Dufay war nicht nur 'Trendsetter' bei den "L’homme armé"-Messen, sondern überhaupt ein Komponist, dessen Erfindungsreichtum in allen musikalischen Gattungen unerschöpflich war. Er und Gilles Binchois gehörten zu den stilbildenden Musikern des 15. Jahrhunderts, und viele ihrer Chansons regten wiederum die Zeitgenossen und Nachfolger zu Bearbeitungen an (Ensemble Leones am 11.11.).

Gambenkunst und musikalische Genies

Der Gambist Teodore Baù und der Cembalist Andrea Buccarella

Künstlerische Vorlieben und Eigenarten können in die Zukunft weisen, wirken manchmal aber auch wie ein nostalgischer Abschluss, so wie bei Carl Friedrich Abel, dem letzten großen Interpreten auf der Gambe. Jenem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Mode gekommenen Instrument hatte Johann Sebastian Bach mit seinen Gamben-Sonaten ein spätes Denkmal gesetzt. Abel, ein Schüler von Bach, schrieb auch noch für die Gambe, galt aber kompositorisch als Avantgardist und Revolutionär (Teodoro Baù und Andrea Buccarella am 12.11.).

Kristian Bezuidenhout

Über Mozart heißt es manchmal, er sei unbestritten ein musikalisches Genie gewesen, aber kein eigentlicher musikalischer Innovator wie Haydn und Beethoven, sondern ein einzigartiger Vollender, ob in der Oper oder in der sinfonischen Musik. Das trifft mit Sicherheit auf sein Klavierkonzert Es-Dur KV 271 und sein letztes Violinkonzert A-Dur KV 219 zu. Hier führt er den musikalischen "Sturm und Drang" zu klassischer Perfektion (Kammerorchester Basel am 10.11.).

"Imperialer" Stil der Hofoper

Das {oh!} Orkiestra

Ihre Macht und Größe präsentierten die Bourbonen sinnbildlich mit dem Schloss von Versailles, die Habsburger mit der Wiener Hofburg. Dabei war die Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung der Herrscher nicht auf die Architektur beschränkt, sondern fand beispielsweise auch in der Musik statt. Während in Frankreich aber alles Fremdländische zur Seite gedrängt wurde, machten in Wien viele Italiener Karriere, wie der Komponist Antonio Caldara und der Dichter Apostolo Zeno. Sie lieferten 1725 zum Namenstag von Kaiser Karl VI. mit der Oper "Il Venceslao" ein Musterbeispiel für den prunkvollen "imperialen" Hofopernstil ({oh!} Orkiestra am 12.11.).

Eine blonde Frau vor hellblauem Hintergrund wirft ihre Haare in den Nacken.

Im Programm der TAGE ALTER MUSIK IN HERNE geht es also um stilprägende Phänomene in einem umfassenden Sinn. Kurioserweise finden sich in heutigen Modemagazinen immer wieder Tipps zur Stilbildung, die man augenzwinkernd auch über das Programm der TAGE ALTER MUSIK IN HERNE legen könnte. Sie reichen von "Beschäftige dich mit dem, was dir gefällt" bis zu: "Sortiere regelmäßig aus". Eigentlich eine schöne Beschreibung des Spannungsverhältnisses zwischen Mode und Stil.

Nach Herne kommen in diesem Jahr wieder Ensembles aus ganz Europa, die fast alle ihr Debüt bei unserem Festival geben. Im Kulturradio WDR 3 werden sie in den vier Live-Übertragungen und den sich bis in den Dezember anschließenden Konzertsendungen ein überregionales, später in den Übernahmen durch die European Broadcasting Union ein internationales Publikum finden.

DR. RICHARD LORBER
Künstlerische Leitung
WDR 3