Live hören
WDR 3 Kultur am Mittag mit Nicolas Tribes
Giovanna Marini 1981 mit Lucillla Galeazzi im WDR-Funkhaus

Anderes Italien – 16.06.2015

Giovanna Marini

Stand: 18.06.2015, 16:40 Uhr

"La grande madre impazzita" und "Cantata profana" nannte sie 1979 und 1990 zwei ihrer Vokalkompositionen, "Ci ragiono e canto" ("Ich denke daran und singe") hieß eine ihrer frühen LPs. Singen und sagen, unerschrocken notwendige Geschichten erzählen – das ist das künstlerische Credo der großen italienischen Musikerin Giovanna Marini.

Geboren 1937 und in einer Musikerfamilie aufgewachsen in Rom, studierte sie zunächst klassisches Gitarrenspiel. Begegnungen mit Querdenkern wie dem Schriftsteller Pier Paolo Pasolini oder dem Musikethnologen Diego Carpitella sensibilisierten sie für das 'andere Italien' außerhalb der Welt der Massenmedien: für die regionalen Kulturen von Bauern und Hirten und die Subkulturen des städtischen Proletariats. Hoch sensibel, intellektuell und poetisch besang sie in großen Balladen als moderne Troubadoura die menschlichen und sozialen Kollateralschäden der Modernisierung.

Als Mitbegründerin des römischen Zweigs des "Nuovo Canzoniere Italiano", einer aus der Studentenbewegung kommenden Initiative für ein neues italienisches Lied, kam sie mit der archaischen Mehrstimmigkeit des Mezzogiorno und Sardiniens in Berührung. Sie adaptierte Elemente daraus für ihre eigenen Kompositionen und singt seit 1976 ihre stets scharfzüngigen Alltagskantaten mit einem Frauen-Vokal-Quartett.

Schon lange davor gelang dem Nuovo Canzoniere in Verbindung mit bäuerlichen Musikern, unter anderen der singenden Reisarbeiterin Giovanna Daffini, ein öffentlichkeitswirksamer, weil skandalbehafteter Auftritt auf großer Bühne: 1964 beim internationalen Spoleto Festival dei Due Mondi. Das mondäne italienische und italo-amerikanische Publikum hatte vermutlich nicht im Sinn, dass die 'andere' der im Festival-Titel angesprochenen beiden Welten auch einmal nicht die Neue von jenseits des Atlantik, sondern die ganz alte, unbekannte vor der eigenen Haustüre sein könnte. Und Giovanna Marini erzählt in ihren Konzerten immer wieder mit Vergnügen, wie sich damals in Spoleto eine distinguierte alte Dame von ihrem Platz erhob und wütend ins Auditorium schrie, sie habe nicht teuren Eintritt bezahlt, um dann hier ihr Dienstmädchen singen zu hören.

Giovanna Marini lehrte während der 1990er Jahre Musikethnologie an der Pariser Universität Vincennes-Saint Dénis. Schon sehr viel länger und auch heute noch unterrichtet sie "uso della voce", "Gebrauch der Stimme", an der "Scuola Popolare di Musica" des römischen Viertels Testaccio.

Autoren: Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm

Redaktion: Werner Fuhr